Herr Moebius, wie beschreiben Sie den Zustand unserer Gesellschaft?
Stephan Moebius: Ich bin pessimistisch in der Bestandsaufnahme, optimistisch aufgrund der Möglichkeiten einer Analyse. Denn wenn ich weiß, mit welchen Problemen ich es zu tun habe, kann ich reflektierend mögliche Lösungen dafür suchen.
Werden Sie diese Erklärungen in ihrem Impulsreferat beim Kongress thematisieren?
Moebius: Passend zu meinem Schwerpunkt werde ich über die Soziologie-Geschichte sprechen. Und da erkenne ich, dass wir viele Krisen, die wir heute als Stimmung, also das atmosphärische Klima unserer Gesellschaft ausmachen, auch in der Zwischenkriegszeit vor 100 Jahren sehen können. Denn es handelt sich um strukturelle Probleme, die längerfristig in unserer modernen Gesellschaft angelegt sind.
Können Sie für diese Probleme ein paar Beispiele nennen?
Moebius: Nehmen wir etwa die Demokratie-Krise, also den Vertrauensverlust in Institutionen und den zunehmenden Populismus. Schon 1926 wurde bei einem Soziologie-Kongress in Wien diskutiert, dass Demokratie nicht davor gefeit ist, mit demokratischen Mitteln abgeschafft zu werden.
Lassen sich weitere Parallelen zwischen gestern und heute erkennen?
Moebius: Wie nach dem Ersten Weltkrieg stellen wir erneut eine Polarisierung, eine wachsende Spaltung zwischen gesellschaftlichen Klassen fest. Genauso wie in den 1920er-Jahren haben wir gegenwärtig eine hohe Inflation, ökonomische Unsicherheit und eine Prekarisierung in der vormals gesicherten Mittelschicht. Ein weiteres Beispiel ist, dass sich ein Aufweichen traditioneller Identitäten fortsetzt. Ich denke, diese Ähnlichkeiten sind nicht zufällig und weisen auf tieferliegende Probleme hin.
Welchen Anteil haben Digitalisierung sowie Pandemie?
Moebius: Sie beschleunigen das Tempo und die Polarisierung. Zusätzlich befeuern Polarisierungsunternehmer in den sozialen Medien die Debatte. Diese Tech-Konzerne agieren nicht nach demokratischen oder rechtsstaatlichen Regeln, sondern mit dem Ziel der Profitmaximierung.
Wenn diese genannten Aspekte tief gewissermaßen in unserer gesellschaftlichen DNA verankert sind, gibt es dann überhaupt ein Entkommen?
Moebius: Ich muss wissen, welche Probleme vorliegen. Dann kann ich über die Bestandsaufnahme zu Lösungen kommen.
Welche Lösung kann die Soziologie als Beobachterin der Gesellschaft anbieten?
Moebius: Es gibt eine Debatte darüber, ob sich die Soziologie streng an Werturteilsfreiheit halten und nur konstatieren soll. Ich denke vielmehr, unsere Disziplin sollte als Teil der Gesellschaft auf Basis von Analysen Stellung beziehen, denn sonst wird nur der Status Quo verstärkt.
Stephan Moebius setzt sich nicht nur beim 28. Kongress der Österreichischen Gesellschaft mit Parallelen zwischen einst und heute auseinander. Ausführlich dazu widmet er sich in der fünfbändigen Reihe „Soziologie der Zwischenkriegszeit“, die gemeinsam mit Karl Acham herausgegeben und am 1. Juli 2025 vorgestellt wird. ⇒ Über das Projekt und die Reihe mehr erfahren
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